1. Bestandsaufnahme: keine konjunkturelle Rezession, sondern ein negativer Strukturwandel
Wir befinden uns derzeit nicht lediglich in einer konjunkturellen Rezession, wie wir sie schon viele hatten und die in zwei, drei Jahren wieder vorübergehen wird. Wir stehen vor dem strukturellen Problem, dass in Deutschland privat zu wenig investiert wird und Erweiterungsinvestitionen, d. h. Investitionen, mit denen Unternehmen ihr Sachanlagevermögen und damit ihre Produktionskapazität ausbauen, überwiegend im Ausland stattfinden. Für ausländische Direktinvestitionen ist Deutschland als Zielland uninteressant geworden.
Seit 2019, also seit fast sechs Jahren, ist die wirtschaftliche Entwicklung rückläufig. In fast allen Branchen, vor allem in der Chemie und im Automobilbau, ist ein Rückgang der Produktionsmengen zu verzeichnen. Eine der wichtigsten Ursachen dafür ist, abgesehen von einer Überregulierung der Wirtschaft und der Vernachlässigung des Humankapitals (siehe hierzu unten), eine in der Wirtschaft bestehende erhebliche Unsicherheit über die Zukunft der deutschen Energieversorgung, die sich mit der Energiekrise verstärkt hat und Unternehmen davon abhält, sich auf langfristige Investitionen in Deutschland einzulassen.
2. Verfehlte Energie- und Klimapolitik
a) Steigender Energiebedarf durch erneuerbare Energien nicht zu decken
Der Energiebedarf unserer Volkswirtschaft – wie auch der anderer Ökonomien in der Welt – wird weiter zunehmen. Durch erneuerbare Energien werden wir beim heutigen Stand der Technik lediglich den zusätzlichen Bedarf decken können. Das heißt, wir werden auch in naher Zukunft auf fossile Energieträger angewiesen sein (aus der Atomkraft sind wir ja bekanntlich ausgestiegen, und ein Wiedereinstieg ist sowohl politisch als auch wirtschaftlich gesehen in den nächsten Jahren eher unwahrscheinlich).
Den Abbau und die Nutzung eigener fossiler Brennstoffe (im Falle Deutschlands ist das die Braunkohle) schon jetzt signifikant reduzieren zu wollen, ist vor diesem Hintergrund energiepolitischer Harakiri. Das können wir erst, wenn sich der technologische Stand der erneuerbaren Energien entsprechend entwickelt und wir eine Strategie ausgearbeitet haben, mit der wir klimaneutrale Moleküle in ausreichenden Mengen ins Land bekommen, sonst wird der Exodus der Industrie in einem nie gekannten Ausmaß stattfinden. Die Energiewende in ihrer jetzigen Form muss also gestoppt werden.
Nachdem die Atomkraftwerke abgeschaltet worden sind, muss die so entstehende Versorgungslücke durch den Zubau von konventionellen, d. h. Gaskraftwerken geschlossen werden, die nicht nur mit Erdgas, sondern in Zukunft auch mit blauem klimafreundlichen Wasserstoff betrieben werden können. Dieser Energieträger sollte bereits jetzt, am besten im Rahmen der Europäischen Union, in den nötigen Mengen beschafft und bevorratet werden. Dort, wo starke technologiespezifische Vorgaben existieren, sollte Deutschland auf den EU-Emissionshandel des EU-ETS als Leitinstrument setzen. Die Einnahmen aus dem Emissionshandel könnten eingesetzt werden, um Investitionen in die notwendige Infrastruktur zu finanzieren und/oder um die Belastungen der CO2-Bepreisung abzufedern (Grimm und Gross 2022, Grimm et al. 2023).
b) Klimapolitik auf nationaler Ebene ist kontraproduktiv
Selbst gesetzt den Fall, es gelänge in naher Zukunft eine weitgehende Dekarbonisierung der Energieversorgung nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene, so bedeutet das nicht, dass sich auch die weltweit ausgestoßenen CO2-Emissionen reduzierten, sie würden mittelfristig sogar eher zunehmen.
Spielen Deutschland und Europa weiter ihre von der Politik vielbeschworene „Vorreiterrolle“, werden die Weltmarktpreise für fossile Brennstoffe fallen mit der Folge, dass energiehungrige (Schwellen-)Länder zuschlagen und jene fossilen Energieträger in großen Mengen verfeuern werden, die wir nicht mehr abnehmen1. Dann mögen wir uns dessen rühmen, dass die von europäischem Territorium aus emittierten Emissionen drastisch gesunken sind, während gleichzeitig dieselbe oder eine sogar noch größere Menge woanders auf der Welt in die Atmosphäre geblasen wird. Damit hätten wir zwar unser moralisches Gewissen beruhigt, doch faktisch genau das Gegenteil von dem erreicht, was weltklimapolitisch sinnvoll wäre.
Es müssen also möglichst viele Länder an einem Strang ziehen – und nicht an zwei Enden in unterschiedliche Richtungen. Von entscheidender Bedeutung wird sein, ob die in den Industrieländern entwickelten Technologien der erneuerbaren Energien und damit verbundene umweltfreundliche Herstellungsverfahren sich auf dem globalen Markt durchsetzen werden. Und das werden sie nur tun, wenn sie betriebswirtschaftlich rentabel, weil auf dem Weltmarkt „state of the art“ sind, hinter den nicht mehr zurückgegangen werden kann. Nur auf dieser Grundlage und wenn dadurch das Wachstum nicht behindert, sondern gefördert wird, werden sich andere Länder davon überzeugen lassen, diese Technologien und Verfahren auch in ihr Wirtschaftssystem zu integrieren oder in dieser Hinsicht entsprechend tätig zu werden.
3. Nötige wirtschaftspolitische Reformen in Deutschland
Um unser Land wieder auf den Wachstumspfad zu bringen, sind eine gesicherte Energieversorgung und mit anderen Ländern konkurrenzfähige Energiepreise entscheidend. Das aber allein reicht nicht aus. Nach der der Ansicht führender deutscher Ökonomen muss auch auf folgenden wirtschaftspolitischen Feldern umgesteuert werden:
a) Reduktion der konsumtiven Ausgaben und Transferleistungen des Staates: Reform des Sozialstaats
Konsumtive Ausgaben des Staates sind Ausgaben, die direkt keinen produktiven Mehrwert schaffen. Renten oder Sozialleistungen schlagen als Transferleistungen in Deutschland derzeit mit etwa 27 % des Bundehaushalts zu Buche, Tendenz steigend. Damit der Staat wieder mehr in die ökonomische Infrastruktur (Verkehr und Mobilität, Energie, Kommunikation und sonstiges) und das Humankapital (Aus- und Weiterbildung) investieren kann, ohne sich auf Kosten der nachkommenden Generationen und der internationalen Kreditwürdigkeit weiter zu verschulden, müssten sowohl die Transfer- als auch andere Konsumausgaben des Staates langsamer wachsen als das Bruttoinlandsprodukt oder anteilig sinken. Das Problem liegt in der Struktur der Staatsausgaben. Die Staatsquote (Ausgaben des Staates für seine Bürger im Verhältnis zum erwirtschafteten Bruttoinlandsprodukt) ist mittlerweile auf rund 50 Prozent angestiegen. Dieser Prozess hat sich seit 2011 beschleunigt. Die Transferausgaben sind deutlich stärker gestiegen als die Konsumausgaben, und die Konsumausgaben wiederum deutlich stärker als die Investitionsausgaben.
aa) Finanzierung des Rentensystems
Die Finanzierung des gesetzlichen Rentensystem wackelt, weil immer weniger darin einzahlen. Die Babyboomer, also Personen, die Mitte der 1950er bis Ende der 1960er Jahre geboren wurden, werden bald in Rente gehen, und sie wollen eine Rente von Kindern haben, die sie selbst nicht haben. Vielleicht so: Im Jahr 2035 wird das Verhältnis zwischen der Zahl der Alten und der Zahl der arbeitender junger Menschen erstmals am stärksten ausgeprägt sein. Wie soll angesichts dieser demografischen Entwicklung das gesetzliche Rentensystem finanziert werden – selbst wenn man eine gewisse Produktivitätssteigerung je Erwerbstätigenstunde zugrunde legt?
Um unser gesetzliches Rentensystem weiter finanzieren zu können und die entsprechenden Transferleistungen stabil zu halten oder zu senken, ist es unerlässlich, dass die Menschen länger arbeiten.
Leider werden hier aber falsche Anreize gesetzt. Insbesondere gutverdienenden Facharbeitern wird es gewährt, mit gewissen, aber verschmerzbaren Abschlägen frühzeitig in Rente zu gehen. Diese Abschläge sind jedoch versicherungsmathematisch fragwürdig, so die Einschätzung der drei Wirtschaftsweisen in ihrem Gutachten vom Februar 20252.
Systemisch gesehen muss das Renteneintrittsalter nach hinten verschoben werden, zumal die Lebenserwartung höher geworden und aufgrund einer bewussteren Lebensführung und medizinischer Fortschritte sich sowohl die körperliche als auch geistige „Fitness“ bei vielen länger erhalten hat. Früher starben die Menschen in der Regel 10 Jahre nach dem Renteneintrittsalter, heute können es bis zu 30 Jahre sein.
Diesem Umstand muss das gesetzliche Rentensystem Rechnung tragen, möchte es finanzierbar bleiben. Und warum soll es überhaupt ein gesetzlich vorgeschriebenes Renteneintrittsalter geben? Jene, die auch danach weiterarbeiten wollen, weil ihnen die Arbeit einen wichtigen Sinn stiftet und sie sich dazu in der Lage fühlen, sollten nicht daran gehindert werden, sie weiter zu verrichten. In den USA und anderen angelsächsischen Ländern ist dies übrigens möglich. Wir reden hier nicht von Menschen, die körperlich schwer gearbeitet haben (Beispiel: Bauarbeiter) oder schweren seelischen Belastungen (Beispiel: Rettungssanitäter) ausgesetzt worden sind. Sie sollten natürlich weiterhin ohne Abstriche und wie gehabt in die wohlverdiente Rente gehen dürfen.
bb) Steuerung und Begrenzung von Migration
Die ungeregelte Migration nach Deutschland hat Ausmaße angenommen, die Staat und Kommunen sowohl institutionell als auch finanziell nicht mehr stemmen können. Deshalb muss sie begrenzt und in eine geregelte Einwanderungspolitik überführt werden. Deutschlands Arbeitsmarkt ist auf Zuwanderung angewiesen. Sie aber wie bislang mehr oder weniger durch das Nadelöhr des Asylrechts zu führen, ist unsinnig. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz (2024), das einen Abbau bürokratischer Hürden verspricht, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Ob es tatsächlich greifen und Deutschland für ausländische Fachkräfte zu einem attraktiven Einwanderungsland machen wird, bleibt abzuwarten. Kontraproduktiv sind emotional aufgeladene und undifferenzierte Debatten, die jedwede Form von Migration oder Migranten aus einem bestimmten Land in ein und denselben Topf wirft.
2. Deregulierung
Viele Ökonomen, so auch der Vizepräsident und Konjunkturchef des Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Stefan Kooths kritisieren eine überbordende Bürokratie, zu viele Staatseingriffe und Subventionen. Kooths mahnt: „Die Politik verheddert sich in immer neuen Vorschriften und Eingriffen in die Wirtschaft, die sie dann mit neuen Vorschriften und Eingriffen korrigieren muss und so weiter. Das ist ein Teufelskreislauf nach unten.“3
Diese klassische Interventionsspirale hat sich in den letzten Jahren nicht zuletzt im Bereich Energie bemerkbar gemacht mit der Folge, dass die Preise für Elektrizität immer weiter gestiegen sind, was viele Unternehmen dazu bewegt hat, abzuwandern oder mit diesem Gedanken zu spielen. Auch auf EU-Ebene gibt es einen Wust an immer neuen Regulierungen. Es ist an der nächsten deutschen Regierung, bei deren Abbau eine Vorreiterrolle zu spielen.
3. Abbau der Verschuldung und wirtschaftspolitische Investitionen für mehr Wachstum
Es müssen wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen geschaffen werden, die so breit angelegt sind, dass in allen Branchen Wachstum entstehen kann. Werfen wir einen kurzen Blick zurück und stellen ein Vergleich mit anderen Industrieländern an: In den letzten 25 Jahren sind die USA oder auch Länder wie die Niederlande, die Schweiz oder Dänemark, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, um gut 50 bis 60 Prozent gewachsen. Deutschland ist in diesem Zeitraum um gut die Hälfte dessen gewachsen, ähnlich wie Frankreich (das weniger Industrie aufweist). Die Niederlande, die Schweiz und Dänemark sind wettbewerbsfähiger, und ihre Schuldenquoten liegen, anders als in Deutschland, unter 60 %. Dort wurde nicht auf Kosten der Infrastruktur gewirtschaftet, sondern die drei Länder liegen hier nach fast allen Kriterien in den Rankings vorne.
In den USA ist der Output an Wirtschaftsleistung in der Industrie gewachsen, obwohl die Anzahl der dort beschäftigten Personen zurückgegangen ist. Noch stärker gewachsen in den USA und für ihre guten Wachstumszahlen verantwortlich sind der IT-Sektor und der Sektor wissensintensiver Dienstleistungen (= Dienstleistungen, die ein hohes Maß an Fachwissen und Erfahrung sowie ein hohes Maß an intellektuellen Ressourcen erfordern).
Deutschland muss seine fiskalischen Spielräume für wirtschaftspolitische Investitionen wieder erhöhen, die es durch eine erhöhte Staatsverschuldung zur Aufrechterhaltung des Sozialstaats und zur Ankurbelung der Nachfrage verloren hat4. Dass einige Parteien die Schuldenbremse reformieren wollen oder sich hier nicht eindeutig äußern, ist genau der falsche Weg.
Neue Schulden würden überdies die Inflationsgefahr anheizen und die Kaufkraft vieler Bürger schmälern, was viele von ihnen bei den nächsten Wahlen 2029 in die Arme extremistischer Parteien treiben könnte. Eine weitere Verschuldung wäre auch insofern gefährlich, als sie die Kreditwürdigkeit Deutschlands senken würde.
4. Steuerreform
Damit die Investitionsquote der Unternehmen wieder steigt und mehr Wachstum generiert wird, müssen sie steuerlich entlastet werden. Deutschland liegt bei der Unternehmensbesteuerung zusammen mit Japan an der Spitze der G7. In den USA wurde eine Senkung des Körperschaftsteuersatzes auf 15 % in Aussicht gestellt, der damit noch niedriger als in der Schweiz wäre. In Deutschland ist der Steuersatz für Unternehmensgewinne doppelt so hoch, die ihnen im Gegenzug dafür angebotene Infrastruktur jedoch mangelhaft.
Fazit: Was folgt daraus für Anleger?
Ob eine neue Bundesregierung die oben skizzierten nötigen Reformen in Angriff nehmen wird, bleibt abzuwarten. Sehr zuversichtlich sind wir hier nicht, weil wir es wahrscheinlich wieder mit einer Regierung zu tun haben werden, deren Koalitionäre diametral andere Politikziele verfolgen. Anstatt an einem Strang zu ziehen, wird man wohl an mehreren Enden ziehen, so dass die wirtschaftspolitischen Ergebnisse nicht Fisch und nicht Fleisch sein werden. Und weil das ökonomische Verständnis vieler Bürger und auch vieler sog. „Fachleute“ in den Medien meines Erachtens nicht sonderlich entwickelt ist, wird auch die gesellschaftliche Grundlage dafür fehlen. Das wiederum wird die Politik entmutigen, die nötigen Reformschritte zu ergreifen, schließlich möchte man wiedergewählt werden. Wie heißt es so schön: So klug wie die Wähler sind, so gut ist auch die Politik. Vielleicht muss hier das Kind erst in den Brunnen gefallen sein, bis sich substantiell etwas ändern wird.
Der Blog zeigt einmal mehr, wie wichtig es ist, dass liquide Vermögen und Ersparnisse nicht bzw. nicht konzentriert in Deutschland oder Europa angelegt werden, denn sonst geht man Konzentrationsrisiken ein. Die Lösung ist – Sie werden es bereits ahnen –,in die Erträge der Weltwirtschaft, d. h. in breit diversifizierte, dynamisch sich anpassende und zugleich regelbasierte Indexfonds zu investieren.
Der weitsichtige Anleger denkt nicht national oder europäisch, sondern global.
- Es sind ja nicht unsere eigenen fossilen Brennstoffe, die wir in der Erde lassen könnten. Sie werden woanders weiter abgebaut oder gefördert und auf den Weltmärkten gehandelt werden. ↩︎
- Quelle: https://insm.de/aktuelles/pressemitteilungen/top-oekonomen-zeigen-dramatisches-bild-der-wirtschaftlichen-lage ↩︎
- Focus, 23.08.2023, Rainer Zitelmann: „Überregulierungs-Republik Deutschland: So stoppen wir unseren Niedergang“ (https://www.focus.de/finanzen/news/gastbeitrag-von-rainer-zitelmann-ueberregulierungs-republik-deutschland-so-koennen-wir-unseren-niedergang-stoppen_id_203069852.html). ↩︎
- Hans-Werner Sinn sagt hierzu: Die Staatsschuldung „in der Eurozone wurde in den letzten Jahren weitgehend mit der Druckerpresse des Eurosystems finanziert. Staatsschulden und Gelddrucken bedingen sich gegenseitig. Staatsschulden ermuntern die Zentralbanken zum Drucken und Verleihen von Geld, um die Zinsen klein zu halten. Und die wegen des Gelddruckens niedrigen Zinsen ermuntern die Staaten, sich neu zu verschulden“ (https://www.hanswernersinn.de/de/geldentwertung-focus-money-24112021). ↩︎