Vorbemerkung: Um unseren kurzen Abriss über das aktuelle Weltgeschehen bzw. die jüngsten Entwicklungen an den Kapitalmärkten besser einordnen zu können, möchten wir vorwegschicken, dass in unserem Investitionsansatz zu keinem Zeitpunkt weder eine strategische Asset-Allokation noch ein taktisches „Rein-raus-Investieren“ vorgesehen ist. Dafür gibt es gute wissenschaftliche Gründe, die wir in unseren Investmentleitlinien detailliert zusammenfassen.
Noch zum Jahresbeginn 2022 konnte man davon ausgehen, dass die Geldpolitik sich wieder normalisieren, also langsam wieder einen „neutralen“ Kurs einschlagen wird: Die weltweit führenden Notenbanken würden zunächst den Kauf von Anleihen beenden und in einem nächsten Schritt die Leitzinsen graduell (und nicht rasch) anheben.
Dieser sich abzeichnende Normalisierungsprozess wurde durch zwei exogene Einflüsse abgewürgt: (i) durch die Lieferkettenunterbrechungen infolge neuer Covid-Lockdowns in China und (ii) insbesondere durch den russischen Überfall auf die Ukraine verursachten Energiepreisanstieg, der vor allem die europäischen Länder hart getroffen hat. Beides wiederum trieb die Angebotspreise so stark nach oben, dass die Zentralbanken vor einer „galoppierenden“ Inflation standen und nicht mehr, wie noch am Jahresanfang vorgesehen war, eine graduelle Zinspolitik verfolgen konnten, sondern sich offensichtlich gezwungen sahen, die Zinsen in rascher Folge zu erhöhen, wobei noch weitere bis zum Ende des Jahres angekündigt wurden. Aus Sicht der Kapitalmärkte handelt es sich hier um einen radikalen Kurswechsel der Geldpolitik, der mittelfristig angelegt zu sein scheint.
Dieser Einschätzung zufolge erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass die gegenwärtige Krise Deutschland wie auch andere europäische Länder in eine (hoffentlich nicht zu starke) Rezession treiben wird. Wie diese genau aussehen und sich auf die reale Wirtschaft auswirken wird, ist noch ungewiss. Beobachter und Marktteilnehmer treiben derzeit viele offene Fragen und Sorgen um, die auch dem Kapitalmarkt bekannt sind. Die Gefahr einer Rezession steigt in dem Maße, wie die Preissetzungsmacht der Unternehmen nachlässt (d. h. die höheren Preise der Unternehmen von den Verbrauchern nicht mehr ohne Weiteres akzeptiert werden), was in der Regel dazu führt, dass Unternehmen in der Folge, sofern sie dazu überhaupt in der Lage sind, ihre Preise senken müssen und somit deutlich weniger Investitionen tätigen können. Im Gegenzug versuchen Unternehmen die Arbeitskosten so weit wie möglich zu senken, indem sie Arbeitnehmer entlassen. Bei einer gleichbleibend hohen oder steigenden Inflation führt dies dazu, dass aufseiten der Privathaushalte – auch jenen, die nicht von Arbeitslosigkeit betroffen sind – die Kaufkraft erodiert.
Reaktionen der Geld- und Fiskalpolitik:
Die Zentralbanken (FED, EZB oder BoE) sind sich sehr wohl im Klaren darüber, dass sie wenig gegen die Angebotsknappheiten, wie sie schon einmal in den 1970er-Jahren auftraten, tun können. Stattdessen versuchen sie durch Zinserhöhungen die Inflation in den Griff zu bekommen und sie zurück auf einen bestimmten Zielwert (FED: ca. 2,5 %, EZB: ca. 2,0 %) zu drücken. (Was die Ursachen für die Inflation betrifft, gibt es strukturelle Unterschiede zwischen den USA und Europa. In den USA wird die Inflation stark von der Nachfrage getrieben [angebotsgetriebene Inflation], während sie in Europa primär auf gestiegene Energie- und Nahrungsmittpreise zurückzuführen ist.)
Die ergriffenen und auch künftig geplanten Maßnahmen sind Zinserhöhungen, mit denen die Nachfrage nach unten gezwungen werden soll. Dieses Vorgehen in der gegenwärtigen Krise ist aber das genaue Gegenteil dessen, was Staaten mit ihrer Fiskalpolitik zu erreichen versuchen, nämlich alles dafür zu tun, dass (i) die Nachfrage nicht weiter sinkt, (ii) Privathaushalte vor weiteren Preisanstiegen geschützt und (iii) größere soziale Verwerfungen mit geeigneten fiskalischen Maßnahmen vermieden oder verhindert werden.
Die Frage aber, ob die amerikanische Zentralbank, wie angekündigt, die Zinsen weiterhin kräftig erhöhen wird, kann heute niemand beantworten. Eine solche Zinserhöhung könnte, wohlgemerkt kurzfristig, zu einer hohen Volatilität auf dem Kapitalmarkt führen. Die amerikanische Zentralbank mag aber ebenso gut von einer deutlichen Zinserhöhung absehen, weil sie zwischenzeitlich zu der Einschätzung gelangt ist, dass eine weitere Zinserhöhung oder eine zu hohe Zinsbelastung die US-amerikanische Volkswirtschaft substantiell schädigen könnte. Ein solcher „Pivot“ bzw. Umkehrpunkt im Hinblick auf die bislang verfolgte restriktive Politik der monetären Straffung könnte für die US-amerikanische Zentralbank dann erreicht sein, wenn die Arbeitslosenzahlen in die Höhe schnellen und man befürchtet, dass auch der amerikanische Immobilienmarkt unter die Räder geraten könnte.
Zu akzeptieren, dass die Zukunft unsicher ist, fällt den meisten Anlegern schwer, daher möchte ich abschließend kurz auf einen zentralen Aspekt eingehen, den wir in unseren Erläuterungen/Dokumenten regelmäßig ansprechen, nämlich den Unterschied zwischen zuverlässig richtigen und zufällig richtigen Prognosen.
In unserem Arbeitsumfeld ist uns wirklich niemand bekannt, der zum Jahreswechsel 2021/2022 ernsthaft davon ausging (also zuverlässig prognostizieren konnte), dass wir bis Ende des Jahres 2022 mit einem derart scharfen Zinsanhebungszyklus würden rechnen müssen, der die Finanzierungsbedingungen für Unternehmen und Privathaushalte schlagartig auf längere Sicht verändern wird. So wenig, wie diese Krise zuverlässig vorherzusehen war, so wenig sind es derzeit ihre kurz- und längerfristigen Auswirkungen auf die reale Wirtschaft.
Die Stimmung ist momentan düster, ebenso die Indikatoren, die sich vor diesem Hintergrund abzeichnen könnten.
In unserer „Investmentstrategieerklärung“ (nächstes Kapitel) können Sie nachlesen, welche Schlussfolgerungen kluge Anleger aus der gegenwärtigen Krise ziehen sollten.
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